Vorgereist

Bharatanatyam (*ca. 200 n. Chr., Tamil Nadu, Südindien)

Interpretinnen des ältesten Tanzes

„Wer nicht tanzen kann, sollte die Schuld nicht dem Tanzboden geben.“

Indien ohne Farben ist unvorstellbar. Was alltäglich auf den Straßen sichtbar ist, wird übertroffen von den Stoffen der Gewänder für indische Tänze, die ausschließlich von Frauen aufgeführt werden. Acht klassische Tanzstile haben sich in der Geschichte der Tempelkultur und ihrer religiösen Tänze bewahrt. Kathak ist ein indischer Tanzstil, der vor allem in Nordindien, im Punjab und in Uttar Pradesh verbreitet ist; die Wurzeln des bekanntesten Tanzes Bharatanatyam liegen in Südindien. Die meisten dieser Choreographien sind Erzähltänze, ihre Geschichten stammen aus der hinduistischen Mythologie. Mit einer schnellen Fußarbeit und abruptem Rhythmuswechsel werden sie durch Sprünge und Drehungen, durch Augenspiel und Fingergesten dramatisch aufbereitet. Bis zu 150 Fußglöckchen und Schellen unterstreichen die wilden Bewegungen, bevor diese wieder in die minimalistische Gestik von Händen, Fingern und Armen münden: Es gibt allein 56 unterschiedliche Handgesten und 19 unterschiedliche Ruhepositionen für die Füße.

Was dargestellt wird, handelt von dem ältesten Thema der Welt: von Liebe.

Die Tänze erzählen von Krishna, Shiva und Shivas Töchtern, von den Tempeldienerinnen, von Buddha, der  Verführung der Götter und dem weltlichen Vergnügen. Nach altem Glauben ist ein Gott in jedem Menschen, der tanzt. Die empfangene Botschaft mit dem irdischen Dasein zu verbinden, heißt, die höchste Stufe der kosmischen Harmonie zu erreichen. Der Tanz ist nicht spirituelle Entrücktheit, sondern weltliche Freude zugleich, denn nur das Allumfassende wird in der gesamten indischen Philosophie als ein vollkommenes Leben bezeichnet. Bis ins 18.Jahrhundert der Fürstendynastien und der Kolonialisierung hinein galt vor allem der Bharatanatyam als ein in sich vollkommener Tanz und wurde als Sinnbild einer unsterblichen Natur gesehen, charakterisiert durch perfekte Technik und überwältigende Schönheit.

Nach Indiens Unabhängigkeit haben einzelne Schulen alles daran gesetzt, den klassischen Tanz von der Aura kommerzieller erotischer Unterhaltung, zu der er herabgesunken war, zu befreien und den Tänzerinnen ihren ursprünglich hohen gesellschaftlichen Status zurückzugeben.

In den hinduistischen Schriften gilt der Tanz als eine Erfindung Brahmas. Es heißt, der höchste Gott habe einen Dichter damit beauftragt, eine Anleitung für Musik und Tanz zu schreiben. Als Ergebnis dieses Auftrags ist die Textsammlung Natya Shastra zu verstehen, geschrieben zwischen 200 v. – 200 n. Chr. Sie umfasst 6000 metrische Versformen, die sogenannten Stanzen, und gilt bis heute als didaktisches Fundament aller indischen Tanzdramen. Dieser Rhythmus stammt aus dem noch älteren vedischen Sanskrit, in dem um 4. Jh. v. Chr  der Dichter Valmaki das Nationalepos „Ramayana“ in 24000 Versen schrieb. Er habe diese besondere Form der Strophe gefunden, als er sah, wie ein Jäger in der Luft zwei Vögel erlegte, die sich gerade liebten.

Vielleicht schwang diese alte Fabel durch die Jahrhunderte der indischen Musik- und Tanzgeschichte und führte zu der hingebungsvollen Präzision in der Darstellung von Liebe, Tod und Wiedergeburt?

Die bekanntesten Götter und Göttinnen der indischen Mythologie, Shiva, Kali oder Krishna, sind auf frühbuddhistischen Abbildungen nicht zürnend und richtend, sondern tanzend dargestellt. Um von dieser menschlichen Freude in allen Einzelheiten zu erzählen, widmen sich die „göttlichen“ Künstlerinnen lebenslang dem Studium subtilster Tanzvariationen. Fünf Jahre, sagt man, seien das Minimum, um die Basisschritte zu erlernen.

Weltweit bekannt ist die Sangeet Natak Akademi für Musik, Tanz und Drama, die 1952 in Neu Delhi gegründet wurde. Dort ist die Kulturgeschichte der regional verschiedenen Tänze bis weit in die Jahrhunderte zurückzuverfolgen. Die Schule bildet in acht klassischen Tanzstilen aus: Bharatanatyam (Tamil Nadu), Kathak (North India), Kathakali (Kerala), Kuchipudi (Andhra Pradesh), Manipuri (Manipur), Mohiniyattam (Kerala), Odissi (Odisha), und Sattriya (Assam). Sie treffen in dem großflächigen Land auf die einfacheren lokalen Traditionen, in denen der indische Tanz bis in die entlegenen Dörfer fortlebt.

Text: Anne-Felicitas Görtz
Foto: © Meenakshi Payal http://www.flickr.com/photos/payalam/

Literatur

  • Fabrizia Baldissera, Axel Michaels: Der Indische Tanz. Köln 1988
  • Nicole Manon Lehmann, Sama und die ‚Schönheit’ im Kathak. Nordindischer Tanz und seine ihn konstituierenden Konzepte am Beispiel der Lucknow-gharana. Münster 2010
  • Vijaya Rao, Bharata Natyam, Der klassische indische Tanz. Freiburg  im Br. 1987
  • Angela Boeti und Norbert Busè: Shivas Töchter. Film 1999, stellt die Bharatanatyam-Tanzschule in Madras vor.

Kalakshetra Foundation, Madras