Vorgereist

Sofi Oksanen (*1977 in Jyväskylä, Finnland)

Schriftstellerin

„Ich kann dieses Wort ‚Opfer’ für meine Romane nicht ausstehen. Ich ziehe den Ausdruck ‚Überlebende’ vor.“

Die finnische Autorin Sofi Oksanen gilt als ein Shooting Star der nordischen Literaturlandschaft. Der Stoff ihrer Romane und Erzählungen spielt aber nicht nur in Finnland, sondern im dramatischen Rahmen der finnisch-estnischen Geschichte mit all ihren politischen Spannungen. Die Autorin mit dem eigenwilligen Outfit, das an die verstorbene Amy Winehouse erinnert, erklärt in Interviews ihren „doppelten“ Erzählstoff mit ihrer Herkunft: ihr Vater war Finne, ihre Mutter Estnin. Von ihr lernte sie die estnische Sprache.

Sofi Oksanen studierte in Helsinki Literatur und Theater und machte sich mit ihrem ersten Theaterstück „Fegefeuer“ 2005 einen Namen. Zwei Jahre später folgte mit ihrem gleichnamigen Roman der Durchbruch auf nationaler Ebene, ein Jahr später auch international. Der Roman wurde in 38 Sprachen übersetzt. Mit ihm gelangte auch Estland zu Ruhm, der kleine Küstenfleck auf der Landkarte, der am Rande des Weltgeschehens lag. Hier spielt die abgründige Geschichte einer Begegnung von zwei Frauen, deren Lebensalter zwei Generationen auseinanderliegt – die alte Frau eine Bäuerin, die auf ihrem einsamen Hof lebt, die junge Frau ein missbrauchtes Opfer ehemaliger KGB-Agenten, die bis in diese estnische Einöde geflohen ist. Der Startpunkt fällt in das Jahr 1992, der Handlungsbogen, der in einer schmerzhaften und dramatischen Rückblende erzählt wird, setzt 1936 ein, führt über die Geschichte Europas, über Wladiwostok bis nach Berlin und zurück nach Estland, er umschließt mehr als fünf Jahrzehnte Krieg, Nationalsozialismus und Kommunismus. Es geht um weibliche Geschichte, um die Erfahrung einer spezifischen Ohnmacht inmitten von Gewalt und seelischen Verwüstungen.

Estland wird als ein von Okkupatoren zerrissenes Land beschrieben, aufgerieben erst zwischen dänischer, deutscher, schwedischer, russischer Vereinnahmung, dann von den Nazis besetzt, von Russland zurückerobert und bis 1991 wie eine geknechtete Kolonie gehalten. Im Zweiten Weltkrieg starb ein Viertel der estnischen Bevölkerung, danach wurden Zehntausende von Menschen – wie im gesamten Baltikum – in russische Straflager deportiert. Diese jüngere Geschichte von Besetzung, Kollaboration und Straflager ist in Estland Tabu, in Finnland nahezu unbekannt. In dieses Vakuum hat Sofi Oksanen ihr explosives Buch gesetzt.

Auch in den Folgeromanen arbeitet sie mit Versatzstücken der schwierigen baltischen Geschichte, dem Leben der Esten in Finnland in den 1960er und 1970er Jahren, von Estland in den sowjetischen Zeiten, den Auswirkungen der doppelten Identität, die die meisten Menschen unter dem Sowjetregime angenommen haben. Die Selbstbestimmung der Esten und die Aufarbeitung vorrangig der russischen Besatzungszeit ist für Sofi Oksanen neben ihrer literarischen Arbeit ein öffentliches Thema, in das sie sich immer wieder lautstark einmischt. In einem Interview mit der „Welt“ (8.10.2014) erklärt sie ihre Position der engagierten Kämpferin für zivile Rechte: „Als Schriftstellerin habe ich das Recht und die Pflicht, die Mittel zu nutzen, die mir zur Verfügung stehen. Und das sind die Möglichkeiten der Sprache, des freien Wortes. Für mich geht es darum, Menschen, das Menschliche generell zu verteidigen. Wenn ich über Russland schreibe, dann verteidige ich die Rechte von Homosexuellen, von Frauen und insofern westliche Werte und Menschenrechte.“

Ihre Sicherheit, mit Worten gegen die Ungerechtigkeit der Welt anzugehen, hat sie von Kindheit an begleitet: „Ich habe mich immer für Geschichten begeistert. Kennen Sie Lego? Ich war nie daran interessiert, mithilfe dieser kleinen Bausteine Häuser zu errichten, wie andere das so gern getan haben. Ich wollte viel lieber von den Leuten erzählen, die in diesen Häusern leben. Und es hat mich irritiert und enorm geärgert, dass es kaum weibliche Lego-Figuren gab. Ich dachte, verdammt, wo sind all die Mädchen in diesem Spiel. Schließlich habe ich die männlichen Figuren so bemalt, dass sie zu weiblichen wurden.“ Das klingt nach der geradlinigen Sozialisation einer jungen Feministin mit großem Erzähltalent.

Text: Anne-Felicitas Görtz
Foto: © Toni Harkönen

www.sofioksanen.com

Ins Deutsche übersetzt:
Als die Tauben verschwanden. Kiepenheuer & Witsch 2014
Stalins Kühe. Kiepenheuer & Witsch 2012
Fegefeuer. Kiepenheuer & Witsch 2010